Queere jüdische Gedichte und Geschichten in homosexuellen Zeitschriften zwischen 1900 und 1932. Janin Afken und Liesa Hellmann (Hg.) - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Juedisches Leben



AVIVA-BERLIN.de im September 2024 - Beitrag vom 23.08.2024


Queere jüdische Gedichte und Geschichten in homosexuellen Zeitschriften zwischen 1900 und 1932. Janin Afken und Liesa Hellmann (Hg.)
Sharon Adler

Die Anthologie macht erstmalig eine Vielzahl ausgewählter Texte unterschiedlicher Themen und Genres zugänglich, darunter Erzählungen, Lyrik und Kontaktanzeigen. Hervorgegangen ist sie aus einem gemeinsamen Forschungsprojekt der Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Hebräischen Universität in Jerusalem.




Vorreiter:innen Pionier:innen

In der Kaiserzeit und Weimarer Republik entstand die erste queere Subkultur der Welt und mit ihr eine diverse Zeitschriftenkultur, die eine nie dagewesene Fülle an queerer Literatur hervorbrachte. Jüdische Aktivist:innen, Schriftsteller:innen und Ärzt:innen prägten die homosexuelle Emanzipationsbewegung maßgeblich. Doch in den queeren Zeitschriften sind direkte Bezüge zu jüdisch-queerem Leben auffallend selten. Stets von Zensur bedroht, etablierten sich Codes wie die Farbe Lila, das Veilchen, der Freund und die Freundin, um tabuisierte und kriminalisierte Liebe zu erzählen. Auch Bezüge zum Judentum und Jüdischsein entfalteten sich oft nur in Andeutungen und Symbolen. Mal treten die biblischen Gestalten Esther, Joseph und Ruth als Vorfahr:innen queerer Lebensentwürfe auf, mal folgen die Geschichten ihren Protagonist:innen in die Bars, Fabriken und auch Synagogen der modernen Metropole Berlin.

Die Anthologie von Janin Afken und Liesa Hellmann versammelt erstmals eine Bandbreite an Texten aus homosexuellen Zeitschriften, die zwischen 1900 und 1932 erschienen und das Verhältnis von Queerness und Jüdischsein in den Blick nehmen. Die Geschichten, Gedichte und Artikel erzählen von Aushandlungsprozessen innerhalb der Bewegung, von den Bedrohungen durch eine von Homophobie und Antisemitismus geprägte Gesellschaft, aber auch von sicheren Räumen, sich die Texter:innen durch die Literatur schufen.

Die Herausgeberinnen verweisen auch auf den aktuellen Forschungsstand und die damit verbundenen Forschungsdesiderate: "Diese Anthologie erhebt dabei in keiner Weise Anspruch auf Vollständigkeit. Sie bildet weder ´das´ queer-jüdische Leben in Kaiserreich und Weimarer Republik ab noch versammelt sie alle literarischen Texte, die zu diesem Komplex in den queeren Zeitschriften erschienen sind. Sie kann aber einen Einblick geben, auf welche Art und Weise Autor*innen Queeres und Jüdisches miteinander verflochten haben, und die Bandbreite der Codes, Figurationen, Motive und Narrative abbilden, die sie dafür entwickelt und verwendet haben."

Gerade weil die Anthologie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, wird umso deutlicher, wie sehr das Feld der – insbesondere weiblichen jüdischen - Geschichtsschreibung nach wie vor eine Leerstelle darstellt, die in den Blick zu nehmen lange Jahre vernachlässigt wurde.

AVIVA-Tipp: Der hier vorliegende Forschungsbericht zur Geschichte queerer jüdischer Literatur von 1900 und 1932 stellt ein wichtiges Zeitzeugnis und eine wertvolle Grundlage für weitere Forschungen auf diesem Gebiet dar. Die akribische Recherche der Janin Afken und Liesa Hellmann trägt zur Sichtbarmachung des Beitrags von jüdischen Protagonsi:innen dieser Zeit bei. In einer Zeit, in der eine extreme Entsolidarisierung großer Teile der queeren Szene mit Jüdinnen und Juden zu beobachten ist, ein umso mehr wichtiger Beitrag.

Zu den Herausgeberinnen

Janin Afken

studierte deutsche Literatur und Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie promovierte 2022 zu Eigenzeiten in der lesbisch*feministischen Literatur der BRD und DDR in den 1970er und frühen 1980er Jahren im Rahmen des Projekts Cruising the 1970s: Unearthing Pre-HIV/AIDS Queer Sexual Cultures (2016–2019). In ihrem zweiten Buch befasst sie sich mit den diskursiven Verstrickungen von Lesbianism und Jewishness in literarischen Darstellungen der Figur Ruth, Esther und Erika in der Weimarer Republik.
Derzeit forscht sie in dem Projekt Queer Reading – eine Methodologie sowie in dem Projekt Queer Theory in Transit. Reception, Translation, and Production of Queer Theory in Polish and German Contexts.

Liesa Hellmann
studierte deutsche Literatur und Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin (2012–2018). Nach einem journalistischen Volontariat ist sie seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiter*in an der Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität der Humboldt-Universität, zunächst im Projekt Jewish Homosexual Modernism in the German speaking World and Mandatory Palestine/Israel (1890–1945), seit Mai 2023 im Projekt Queer Reading – eine Methodologie: Deutsche Literatur im Zeitalter des Paragraphen 175. In ihrer Dissertation erforscht sie die ästhetischen Dimensionen der literarischen Ko-Konstruktion von Jüdischsein und Sexualität in den Zeitschriften der ersten queeren Emanzipationsbewegung (1890–1933).


Queere jüdische Gedichte und Geschichten in homosexuellen Zeitschriften zwischen 1900 und 1932. Janin Afken und Liesa Hellmann (Hg.)
Sprache: Deutsch
238 Seiten, Broschur
14 Abbildungen
ISBN: 978-3-95565-614-0
Erschienen: 2024
24,90 €

Mehr zum Buch unter: www.hentrichhentrich.de

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Quelle: Hentrich & Hentrich Verlag


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Beitrag vom 23.08.2024

Sharon Adler